HABITAT (2017)

kommentierte AUTHOR`S NOTE von Emerson Culurgioni zu HABITAT (2017) zum Panel "Transformationsprozesse im Film", Mittwoch 07.12.22.

Transkription Präsentation: Emerson Culurgioni

Der Film HABITAT zeigt in vier aufeinanderfolgenden Episoden verschiedene Lebenswelten am größten künstlichen See in Deutschland. Der ehemalige Tagebau wurde durch aufwendige Sanierung in ein Naherholungsgebiet verwandelt.
Reinhard Hirsch blickt von seinem Kleingarten auf die Stelle im See, wo einst das Haus seiner Großeltern stand. Sein Heimatdorf Zöbigker musste dem Bergbau weichen.
In den verlassenen Halden nistet der Bienenfresser, ein bunter Zugvogel mit unverkennbarem Ruflaut.
Christine Lattke wartet mit ihrer Kamera inmitten der Ruinen ehemaliger Industrie auf die Ankunft des Vogels aus seinem Winterquartier in Afrika.
In einer Flüchtlingsunterkunft nahe des Sees, wartet Ganiyou Idriss aus Niger, auf den Ausgang seines Asylverfahrens in Deutschland.
In der Gluck-Auf-Straße, einer ehemaligen Bergmannssiedlung lebt der kurdische Poet Farhan Kalasch. Nach dem er in Deutschland Asyl erhalten hat, versucht er nun Frau und Kinder nachzuholen. Ein Heimatfilm – nur für wen?
Der Film ist vor dem Hintergrund entstanden, dass sich mit PEGIDA und dem Auftreten der AFD 2013 ein Rechtsruck abgezeichnet hat, der sich dann 2016, mit dem Einzug der AFD, mit 25% in den in den sachsenanhaltinischen Landtag manifestiert hat. Wir wollten uns, angesichts der Kontroversen um das Thema Flucht und Migration politisch-künstlerisch dazu äußern. Wichtig war uns andere Bilder für die katastrophale Situation zu finden, jedoch nicht in dem wir das Leid vor Ort zeigen – also an Orten wie Lesbos oder Lampedusa, sondern größere Zusammenhänge und Herausforderungen herausstellen, in dem wir uns sozusagen vor der eigenen Haustür damit befassen.
Ich habe bei der Vorbereitung ein Autorenstatement von 2016 gefunden, das ganz gut meine persönliche Motivation, aber auch allgemeine Anliegen wiedergibt, die wiederum teilweise die Fragen des Panels beantworten. Das würde ich gerne vorlesen

AUTHOR STATEMENT 2016
Ende der 1970er Jahre emigrierten meine Eltern nach Deutschland. Sie waren nicht auf der Flucht, sondern auf der Suche nach besseren Chancen – Arbeit, Sicherheit, Wohlstand für sich und ihre Kinder. Sie waren frei, sich zu bewegen und zu entscheiden wo sie leben wollten. Sie wurden mit offenen Armen empfangen um der deutschen Wirtschaft ihre Arbeitskraft bereit zu stellen. Ich wuchs in Deutschland auf, mit einer zweiten Heimat auf Sardinien/ Italien.
Romantische Erinnerungen prägten lange meinen Heimatbegriff. Das was allgemein als „mediterran“ bekannt ist, ist jedoch längst entromantisiert, nicht zuletzt als Marketingbegriff für einen bestimmte Art von Deko-Baumarktprodukten mit denen sich jeder Vorgarten in Deutschland in ein Stück Italien verwandeln ließe.
Die nationalen Grenzen zwischen den beiden Heimaten hatten für mich lange keine Bedeutung, denn es gab nie einen Zweifel diese problemlos überqueren zu dürfen. Heute hat das Mittelmeer eine andere Bedeutung für mich.
Es ist das Sinnbild für Ausgrenzung und führte so zur endgültigen Entromantisierung meines Heimatbegriffs. Vor diesem Hintergrund hat auch der Blick auf den Geiseltalsee eine andere Bedeutung. Dieses geflutete Tagebauloch kondensiert deutsche Industrie- und Wirtschaftsgeschichte, Bergbaukultur und insbesondere die Wechselwirkungen der Ursachen von Migration für Mensch und Tier.
Insofern dient uns der Geiseltalsee, als der damals größte künstliche See Deutschlands als Schauplatz und Metapher, und macht als solche die Diskrepanz zwischen der Identitätspflege durch Fürsorge für Flora und Fauna, wirtschaftliche Interessen, und dem Umgang mit Migrant*innen und Asylsuchenden, denen wir vor Ort begegnet sind. Sie lebten ringsherum in Isolation, perspektivlos in der Warteschleife, während sprechende bunte Minizüge, Touristen von Weinberg zu Weinberg fahren.
Kurzer Einschub 2022, da wir in den letzten Tagen auch viel über Landschaftsbegriffe gehört haben und über die Notwendigkeit gelernt haben, dass insbesondere die Mehrheitsgesellschaft als Korrektiv gegen Rechtsradikalismus, Chauvinismus und Patriotismus wirken kann.
→ Ob intensive Verbundenheit zur eigenen Landschaft etwas mit rechten Ideologien zu tun haben könnte? In der Forschung zu Rechtsradikalismus findet man hinsichtlich der Frage, wie Wahlverhalten mit ländlichen Räumen und Provinz zusammenhängen, Begründungen die da lauten: „die Entstehung Rechter Ideologien ist eng verknüpft mit Fragen der Bedeutungszuschreibungen von Orten, Landschaften und der Herausbildung lokaler Identitäten. Also räumliche Strategien, die darauf abzielen, ‚Authentizität‘ zu produzieren. Diese Arbeiten heben die Relevanz von Raum hervor, denn „Hass ist von sich aus in der Bedrohung, der Identität und der Motivation mit konkreten Räumen und Orten verknüpft“. Daher tragen regionale sozioökonomische Faktoren zur Entstehung von Diskriminierung bei usw. usw.
Wie wir gestern aus dem Film von Juliane Henrich gelernt hätten, wenn mehr Zeit gewesen wäre den ganzen Film zu sehen, war das politische Programm 1956 schon klar umrissen: weite Teile der Bevölkerung sollten, durch den Zugang zu Eigenheim und Eigentum, als Identitätsstiftende Ideologie eine Verbindung zu ihrem Boden spüren. Die Umsetzung dieses Programms kulminierte dann in der Deregulierung der Banken, in den zwischen den 70ern und 90ern. Billige Kredite erschufen eine Mittelschicht von Kleinkapitalisten, die einen regelrechten Ekel gegen Arme, Arbeitslose und Transferleistungsempfänger entwickelten um schließlich die Interessen der Oberschicht an der Wahlurne zu vertreten. Paradoxerweise war es die SPD die die Hartz4 Gesetze und die Agenda 2010 einführte. Nicht zuletzt wurde die Wirtschaftskrise 2008 von eben solchen billigen Eigenheimkrediten in den USA ausgelöst – wie immer in Krisenzeiten vor allem zum Vorteil von Politiken des rechten Spektrums.
Was verbindet einen mehr mit dem eigenen Boden als hunderte Meter tief in die Erde zu graben? Professor Eberts hat uns ja gestern erinnert, dass man gelegentlich einen Org mit Feuerpeitsche dort unten finden kann. Das heißt also nicht, sich der Provinz zu entziehen, sondern gerade dort mit zu gestalten, wo das Gefühl von der Politik betrogen worden zu sein, stark zu wirken scheint.
Zurück 2016: Wer darf Anspruch auf Freiheit und auf einen selbstgewählten, sicheren Lebensraum stellen und wer nicht? Ein Vogel? Ein Mensch?
Wir haben uns auf die Suche nach der Identität dieser Landschaft gemacht, haben Personen getroffen die Anspruch auf ihre eigene Geschichte erheben und mit dem See ihre Herkunft, Heimat und Freiheit verbinden oder aber erst noch verhandeln müssen. Ein Wechselspiel zwischen Oberfläche und Tiefe, Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, wissen und nicht wissen wollen.
Wir haben unsere Protagonisten, im Anschluss an den abgeschlossenen Film noch mehrere Jahre bei ihrem Versuch hier einen offiziellen und langfristigen Aufenthaltsstatus zu bekommen begleitet. Das ist bis heute, trotz großer Anstrengung und auf viele Leute aufgeteilte Verantwortung nur mäßig gut gelungen.